Nach wie vor erfreuen die wunderbaren Landschaften hier in der Schweiz meine Sinne. Berge, Seen, Flüsse, grüne Felder und auch Gärten voller großer, bunter Blumen, ursprüngliche Bauernhäuser und kleine Herden grasender Kühe ziehen die Blicke auf sich und begeistern das Auge.
Wenn ich darüber nachdenke, warum das so ist und was es bedeutet, diese Schönheit und Verbundenheit erkennen und spüren zu können, überlege ich oft, ob vielleicht durch das Fehlen gewaltsamer Konflikte, von denen dieses Land in der Neuzeit verschont blieb, die Resonanz von natürlichem Frieden in mir und in der Natur um mich herum so stark präsent werden kann.
Frieden – wenn wir ihn nicht in uns selbst spüren, woher sollten wir dann wissen, wie er zwischen verfeindeten Gruppen und Ländern auf dieser Welt zustande kommen kann? Wissen wir, wie Frieden innerhalb unserer Familien, im Umgang mit unseren Kollegen oder Nachbarn geht? Wie erfahren wir den Frieden, wie erkennen wir ihn, wie beteiligen wir uns an ihm? Das möchte ich schon seit langem verstehen.
Die Schweiz ist für die neutrale Einstellung ihrer Regierung bekannt. Gemäß ihrer Verfassung wird sie bei einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen zwei anderen Ländern nicht zu den Waffen greifen. Die Schweizer selbst erwähnen dies häufig und nicht selten schicken sie einige Kommentare hinterher, in denen sie klarstellen, dass sie sich der faulen Kompromisse schon bewusst sind, für die ihre Regierungen in der Vergangenheit verantwortlich waren und sich dabei doch weiterhin als ‚neutral‘ bezeichneten. Und doch bemerke ich einen gewissen Stolz auf diese Neutralität, die die Schweizer Mentalität prägt. Viele, vermutlich die Mehrheit der Schweizer würden darin übereinstimmen, dass es nicht besonders klug ist, einzugreifen, wenn zwei andere ein Problem miteinander haben und dass es friedliche Lösungen gibt.
Frieden. Für einen Amerikaner klingt dieses Wort überholt, wie eine Hippie- Wunschvorstellung. Doch nein, ich weiß, dass sich Millionen von Amerikaner dafür einsetzen. Um das zu unterstützen, möchte ich zeigen, dass sich gerade aus einer neutralen Haltung Vorteile ergeben können, wie eben beispielsweise die Fähigkeit, auf diesem Planeten friedlich zusammenzuleben. Das spüre ich hier im Appenzeller Land, in meiner eigenen Lebensqualität und in der der Menschen, denen ich täglich begegne. Was bedeutet es, neutral zu sein?
Neutralität hat für den Einzelnen eine sehr tiefgehende Bedeutung. Sie bedeutet nicht nur, keine Partei zu ergreifen. Sie bedeutet nicht, sich stets mit einem Buddha-gleichen Lächeln auf dem Gesicht ruhig zu verhalten. Es handelt sich bei ihr nicht um einen stoischen Zustand, in dem Gefühle keine Rolle spielen. Neutralität ist vielmehr die klare Bewusstheit darüber, dass es eine Vielzahl von Perspektiven gibt. Wenn wir uns nicht an unsere innere Gedankenwelt voll von Begründungen und Rechtfertigungen, von Vorlieben und Abneigungen, von der Einteilung in Freunde und Feinde klammern und uns wirklich für die anderen Menschen interessieren ohne dass Meinungen unsere intuitive Kraft vernebeln, dann können wir ganz natürlich einen energetischen Zustand der Neutralität erreichen, der weder Stillstand noch bloße Passivität bedeutet. Das verwechseln wir nicht. Neutralität ermöglicht es den Dingen, lebendig zu bleiben, zu wachsen, sich zu beruhigen, zu heilen und machtvoll zu werden.
Im Auto gibt es dieses große ‚N‘. Fast alle Autos, die ich in Japan und in Europa gefahren bin, hatten ein Schaltgetriebe. Hier schaltet man bewusst von einem Gang in den anderen, doch das geht nicht, ohne zumindest für einen kurzen Augenblick in einen Zustand von ‚Neutralität‘ einzutreten. Autos ohne Schaltknüppel scheinen den Leerlauf zu überspringen und fast alle Autos, die ich in den USA gefahren bin, hatten Automatikgetriebe. In einem Artikel über Autos in Google steht sogar, dass ‚Neutral‘ in Automatik-Wägen ein gefährlicher Gang sei. Man verliert die Kontrolle. Aber ich mag es, ein bisschen im Leerlauf zu verweilen, wenn ich hier in Europa ein Auto mit Schaltgetriebe fahre. Es fühlt sich gut an, nicht ununterbrochen einen Gang eingelegt zu haben.
Wäre es nicht an der Zeit, der ‚Neutralität‘ etwas Platz einzuräumen? Nicht in erster Linie in einem politischen Sinne, sondern in einem physischen, psychologischen und energetischen. Ein Baum hat Äste. Wir identifizieren den Baum anhand seiner Blätter und Blüten und anhand der Form seiner Äste. Doch was gibt diesem wunderbaren Baum tatsächlich Lebendigkeit? Wo liegt seine Schönheit begründet? Licht, Wasser und Luft erreichen den Baum durch die Blätter und die Rinde, aber die Bewegung und Umwandlung dieser Elemente in Energie muss durch eine Verbindung zu den Wurzeln geschehen. Dazu geht es durch die Mitte, den Rumpf, den Stamm, die Innereien und das Herz. Das ist ein unsichtbares neutrales Gebiet, in dem nichts durch unsere Sinne so einfach wahrgenommen werden kann, in dem sich jedoch wirklich alles bewegen muss, um wirklich Energie und Kraft zu transformieren. Wir Menschen funktionieren auf diese Weise und die Tiere ebenso.
Wir Menschen können mit diesen inneren Bewegungen in Berührung kommen. Wir können sie beobachten, unterstützen und weiterentwickeln. Im Lauf unserer Geschichte haben wir Euro-Amerikaner uns zwar gerne als Individualisten bezeichnet, uns jedoch oft von überstürzten Aktionen, Erklärungen und dem Rat von Experten leiten lassen. Weil alles so komplex ist, verlieren wir leicht das Vertrauen in unsere Fähigkeit, spüren zu können, was tief in uns drinnen los ist. Entscheidungen fallen uns schwer. Wir sitzen auf einem Ast unseres Baumes und verlieren den Kontakt zu den anderen Ästen unseres einzigartigen Baumes und schließlich auch zu unserem kollektiven Wald.
Die innere Zerrissenheit wird zur äußeren. Das geschieht überall. Viele von uns Amerikanern sehen sich mit einem Dilemma konfrontiert, einem Gefühl des Stillstandes. Wir wollen so gerne etwas wissen, vorankommen, an die Spitze gelangen, irgendwas erreichen, das wirklich perfekt ist. Für viele ist das heutzutage ein sehr frustrierendes Gefühl.
In dem Artikel über Automatikgetriebe, den ich schon erwähnt habe, heißt es: „Benutze Neutral, wenn dein Auto irgendwo feststeckt.“ Ich mag diesen Satz. Wenn die Dinge nicht so geschmeidig laufen, in den Leerlauf zurückkommen, atmen, aufhören, die Dinge in diesen oder jenen Gang zwingen zu wollen, beobachten, loslassen. Wo bewegen sich Dinge von selbst, ohne unser Zutun?
Diese Neutralität bedeutet nicht aufzugeben. Wir lernen zu vertrauen und Vertrauen fühlt sich wunderbar an. Es hebt unsere Lebensfreude. Wir erholen uns und sind bereit, große Schwierigkeiten mit Mut und Kreativität anzugehen. Diese Qualitäten werden nicht durch einen erschöpften oder ‚getriebenen‘ Verstand hervorgebracht. Sie entstehen aus der Verbindung zu unserem gesamten Menschsein, zu unseren Wurzeln als energetische, lebendige Wesen, die wir Teil der Gesamtheit aller anderen Lebewesen sind. Im Zentrum steht die Liebe. Und von hier aus möchte ich, ein Amerikaner, die Welt sehen, von hier aus möchte ich mit und für andere arbeiten, von hier aus möchte ich mein Leben genießen.
Ich hoffe, immer besser darin zu werden, neutral zu sein, nicht zu beurteilen, nichts zu erzwingen, mich nicht einzumischen, wo es nicht nötig ist. Und hoffentlich kann ich die daraus entspringende Lebensfreude und Zuversicht mit meiner Familie, meinen geliebten Amerikanern und mit der ganzen Welt teilen.