Der Frühlingsanfang scheint hier im Nordosten der Schweiz für ein paar Tage ins Stocken geraten zu sein. Nebel und niedrige Temperaturen sorgen für eine kühle Atmosphäre, fast so als befände man sich in einem riesigen Kühlschrank. Die Menschen hier in Waldstatt plaudern über das Wetter, wie überall sonst auch, und man versucht mir zu versichern, dass nächste Woche schönes Wetter kommen wird. Aber ich habe kein Problem mit den kühlen, feuchten Tagen. Die Energie ist sehr gut für Meditation und Kontemplation.
Viele Menschen, die mich kennen, wissen, dass ich einige Jahre als Mönch in zen-buddhistischen Tempeln verbracht habe. Eine Frage, die mir häufig gestellt wird, ist: „Warum bist du gegangen?“ Ehrlich gesagt war ich früher etwas beleidigt wegen dieser Frage. Ich hatte meine Zweifel, ob die Menschen, die mich da zu einem sehr schwierigen Übergang in meinem Leben befragten, verstanden hatten, warum ich mich überhaupt entschieden hatte, als Mönch zu leben, und warum ich so lange im Kloster geblieben war. Wir sprachen hier über meine ganz persönliche Beziehung zu Buddha, Dharma und Sangha, und nicht über das Wetter. Vielleicht fühlte es sich so ähnlich an, als würde mich ein Fremder über eine frühere Ehe ausfragen und wissen wollen, warum ich mich von einer Frau, die ich sehr geliebt hatte, scheiden ließ.
Ich verstehe jetzt besser, warum die Menschen so schnell auf das Ende meiner Klostergeschichte anspringen. Es ist nicht leicht, geduldig zu sein, wenn es darum geht, unser herausforderndes Leben zu verstehen, oder das eines anderen Menschen. Viele von uns haben einen Mönch oder eine Nonne in sich, die gerne einen guten Teil ihres Lebens an einem abgelegenen Ort verbringen würde, um in sich zu gehen, unterstützt von gleichgesinnten Menschen. Wir wollen andererseits diese Idee aber auch loslassen und uns voll und ganz auf unser Leben einlassen, da wo wir gerade in der Welt stehen. Für die meisten Menschen ist es auch besser, diese Idee loszulassen und sich voll und ganz auf das Leben einzulassen, genau dort, wo auch immer wir uns in der Welt befinden.
Für mich war das Leben im Tempel keine Erfahrung, die ich einfach abhaken und sagen konnte: „Das war interessant, was kommt jetzt?“ Es war ein unglaublich herausforderndes Kapitel meines Lebens, in dem ich kraftvolle Beziehungen zu Orten und Menschen aufbaute, die sich im Laufe der Zeit vertieften und mein Wesen zutiefst prägten.
Ein großer Teil meiner Ordination bestand darin, die zen-buddhistische Gemeinschaft als meine Familie anzunehmen. Es war ein echter Akt des „Zuhause verlassens“, und dieses Ritual hatte große emotionale, psychologische und energetische Auswirkungen.
Das Zuhause verlassen...was bedeutet das wirklich? 1985 wollte ich auf jeden Fall weg von dem Materialismus und der tief verwurzelten kollektiven und individuellen Selbstbezogenheit, die in den USA, wie ich sie kannte, herrschten. Ich hatte 1983-1984 Geschichte in Europa studiert und in einem Land gelebt, durch dessen Mitte eine Mauer verlief. In dieser Zeit habe ich mit einer gewissen Sympathie für den Marxismus viele osteuropäische Länder besucht. Was ich bei diesen Besuchen sah, waren Armut, Umweltverschmutzung und Schusswaffen. Ich war diesen Dingen nie ausgesetzt gewesen, und meine Begeisterung für den Sozialismus/Kommunismus schwächte sich deutlich ab. An der Universität in Göttingen wurde ich ständig von Studenten aufgefordert, die amerikanische Perspektive zu den Themen der Zeit zu erklären: den Philippinen, Nicaragua, El Salvador, der Stationierung von Atomraketen in Westdeutschland und mehr. Es gab viele wichtige Themen, und ich war in jenen Tagen keineswegs ein Meister der Debatte, noch weniger auf Deutsch.
Als ich in die USA zurückkehrte, wurde Ronald Reagan mit einem überwältigenden Sieg wiedergewählt. Ich hatte den Eindruck, dass die amerikanische Öffentlichkeit so gut wie kein Interesse an einer kritischen Diskussion zu den großen internationalen Fragen zeigte. Die simple Rhetorik des Kalten Krieges reichte fast allen in meinem Umfeld. Doch die Oberflächlichkeit des Mainstream-Denkens über soziale Fragen in meiner Generation war frustrierend. Es gab so viel Leid da draußen, und ein beträchtlicher Teil davon war das Ergebnis von Entscheidungen, die von Amerikanern wie mir getroffen wurden. Und es gab so viel zu tun, um zu reifen, um an mir selbst zu arbeiten, damit ich mich in einer sehr komplizierten Welt nützlich fühlen konnte. Oder war ich dabei, verrückt zu werden? Auf jeden Fall fühlte ich mich zu Hause wie ein Alien.
Entfremdet, aber immer noch hoffnungsvoll, gelang es mir, nach meinem Abschluss ein One-Way-Ticket nach Japan zu bekommen. Mein Plan war es, intensiv in die asiatischen Lebenswelten einzutauchen. Noch als Teenager war ich einem indischen Weisen, J. Krishnamurti, begegnet und hatte in einem Universitätskurs einen buddhistischen Mönch aus Sri Lanka kennengelernt. Ich hatte viele spirituelle Bücher gelesen. Ich lernte Zen kennen und begann selbst zu meditieren, in der Hoffnung, meine neurotischen Gedanken loszuwerden und das Herz des selbstlosen Dienens zu entdecken. Diese Einflüsse kamen aus dem Osten. Nachdem ich den Glauben an eine gesunde sozialistische oder kommunistische Entwicklung zu Hause oder in Europa verloren hatte, fragte ich mich, ob es nicht doch gesündere Gesellschaften als die mir bekannten gäbe. Ich könnte in Japan Englisch unterrichten, um Geld zu verdienen, und schließlich ganz Asien sehen. Das war meine Hoffnung.
In meinem zweiten Jahr in Japan reiste ich hinunter nach Hiroshima. Auf dem Weg dorthin kam ich zufällig an einem Tempel in Okayama vorbei. Ich holte meine Bambusflöte heraus, um ein paar Töne zu spielen, und sah einen älteren Priester mit einer Yodo-ähnlichen Aura spazieren gehen. Sein Hund kam zu mir und begrüßte mich. Es kam zu einem Gespräch. Er erzählte mir, dass Ausländer dort im Tempel Zen-Training machten. Mein Japanisch war zu diesem Zeitpunkt nicht sehr gut, aber es wurde mir etwas sehr Wichtiges mitgeteilt. Eine Tür wurde geöffnet.
Nachdem ich in Aikido und dem Spiel auf der Shakuhachi (Bambusflöte) eingeweiht worden war und ein paar Jahre lang durch Japan gereist war, hatte ich genug vom modernen Japan gesehen. Fast alle Menschen dort gaben sich mit dem materiell geprägten Leben zufrieden, das ich bereits als Jugendlicher in Südkalifornien erlebt hatte. Ich sehnte mich danach, die Tiefen der fernöstlichen Seele zu berühren, und konnte mich daher nicht mehr dazu motivieren, Erwachsene und Kinder, die süchtig nach Videospielen, Dosenkaffee und Mangas waren, Englisch beizubringen.
Ich erinnerte mich an den Tempel, wo ich dem beeindruckenden alten Mönch begegnet war, dort wo Ausländer sich in Zen-Buddhismus übten. Ich hatte damals nur einen kurzen Besuch gemacht. Mein nächster Besuch war länger. Ein halbes Jahr später zog ich in den Sogen-ji-Tempel ein.
Ich kann nicht sagen, dass ich bewusst nach diesem Tempel gesucht habe, oder dass ich Mönch werden wollte. Diese Dinge geschahen, nachdem meine vagen Absichten zu einer Hingabe, einem Gelübde, herangereift waren und ich bereit war, einen guten Teil der mir zugeteilten Lebensenergie dem Zen-Meister, den Lehren des Buddha und der Zen-Gemeinschaft zu widmen. Diese Entscheidung bedeutete ein abruptes Ende der Abhängigkeit von materieller oder emotionaler Unterstützung durch „zu Hause“.
Ich versuche, meine Hoffnungen und Erfahrungen im Tempel in Form eines Buches, vielleicht eines Romans, niederzuschreiben. Bilder und Beschreibungen können das, was sich in mir verändert hat, besser vermitteln als Erklärungen. Etwas hatte sein Zuhause verlassen. Etwas konnte auf eine Art und Weise beobachten und durchhalten, wie ich es vorher nicht konnte. Aber für den Verstand, der eine perfekte Welt wollte, oder selbst noch perfekter zu werden glaubte, gab es nur „Große Anstrengungen, keine Ergebnisse“. Kennst du das?
Ich habe wenig natürliches Talent für alles Meditative. Ein guter Meditierender zu sein, erwies sich jedoch gar nicht als das Wesentliche der Ausbildung. Der Zen-Meister half mir, gesunde Wurzeln in meinem Wesen zu schlagen, damit ein Baum mit anständigen Früchten eine Chance hatte zu wachsen. Der Meister gab mir den Namen DoYu, ‚der Weg der Fülle‘.
Das ist also ein Teil der Gründe, warum ich in den Tempel ging und warum ich fünfzehn Jahre dort blieb.
Und warum bin ich denn dann gegangen?
Ja, ich ging wieder weg von einem Zuhause, und das war nicht leicht!
Offensichtlich hatte ich damals, als ich fortging, genug Zuversicht und Energie, um den Schritt aus der Welt des Tempels heraus zu tun und trotzdem mein Streben fortzusetzen, nützlich und zufrieden mit meiner Aufgabe in dieser Welt zu leben. Nach so langer Zeit im Tempel war die Welt außerhalb des Klosters für mich nicht einfach. Aber viele Jahre später, in der Kälte und dem Nebel meines Dorfes hier in der Schweiz, reift mein Baum weiter. Und gutes Wetter kommt!
Vor kurzem war ich in Südindien und habe dort eine fünfköpfige Gruppe durch meine Lieblingsorte geführt. Ich bin mit einem strahlenden Herzen zurückgekehrt und wieder empfinde ich tiefen Respekt gegenüber vielen Tamilen. Das Leben der Menschen in Südindien ist nicht so komfortabel wie das meine. Einige meiner Freunde sind wirklich sehr arm. Aber sie haben ein großes Herz.
Der Umgang mit diesen Menschen ist, kurz gesagt, erfrischend. Angesichts der Politik, der Kriege und der weltweit zunehmenden Gesundheitsprobleme fühlen wir uns oft in den Zyklen der menschlichen Geschichte gefangen, wie sie uns die Medien vorspielen. Wir können uns als Opfer der Medien fühlen. Wir müssen uns aber sicherlich nicht so sehr mit den Zyklen des Lebens identifizieren, wie sie in CNN- oder YouTube-Videos dargestellt werden, und wenn es uns noch so nahegelegt wird.
Meine Zeit in Südindien ließ mich eine Fülle von Hoffnung und Zuversicht spüren, wie schön, tiefgründig und reich das Leben für alle Menschen ist und sein kann. Ich frage mich, ob Sie das seltsam finden. Lese ich mich wie ein Cheerleader für die Menschheit? Auf jeden Fall nehme ich an, dass diese sich entfaltende Ausstrahlung, der Grund ist, warum ich so viel Zeit in Südindien verbracht habe und warum ich weiterhin Reisegruppen dorthin leite.
Aber es ist wichtig für mich, mich zu fragen, was es ist, das unsere helle Natur trübt. Überall, wo ich hinkomme, leuchtet in den Menschen etwas Unverwüstliches. Warum überlagern wir es mit Dramen, Machtspielen und Gewalt? Warum schüren wir ständig unsere Ängste?
Ich denke, die Antwort ist ganz einfach, dass wir nicht genug über uns selbst wissen, und wir haben die Angewohnheit, uns nicht auf eine tiefe, ehrliche Weise mit uns selbst auseinanderzusetzen. Selbsterkenntnis ist nicht wirklich messbar, aber wir können intuitiv spüren, ob jemand wach ist und gelernt hat, sich seinen Herausforderungen auf gesunde Weise zu stellen. Menschen, die jenseits ihrer egoistischen Vorstellung etwas von sich selbst erkannt haben, kultivieren auf ganz natürliche Weise Tugenden wie Stille, Demut und Großzügigkeit. Und wir suchen genau nach diesen Qualitäten bei unseren Lehrern, Künstlern und politischen Führern.
Als ich in meinem Leben spürte, dass ich an einem Scheideweg stand und mich tiefer mit meinem Inneren und mit den Menschen um mich herum verbinden musste, ging ich nach Südindien. Die Luft und der Boden in diesem Teil der Welt leiden unter der Umweltverschmutzung, aber wenn man den Blick schweifen lässt, merkt man schnell, dass das Land spürbar reich an Spiritualität ist und das schon seit langer, langer Zeit.
Es heißt, dass Bodhidharma, der Dhyana-Zen-Mönch, der als 1. Patriarch des Zen bekannt ist (auch Qigong-Schulen lieben ihn!), aus Kanchipuram stammen soll. Krishnamacharya unterrichtete die Begründer des Iyengar- und Ashtanga-Yoga in
Mysuru. Die Theosophische Gesellschaft hat ihren Hauptsitz in Chennai. J. Krishnamurti, der erste Erwachte, den ich in Ojai persönlich sah als ich 17 Jahre alt war, ist ursprünglich Südinder. Sri Aurobindo und „Die Mutter“ haben sich in Puducherry und Auroville niedergelassen und dort eine große spirituelle Anhängerschaft gefunden. Und Ramana Maharshi, ein moderner Hindu-Weiser, der die Selbsterforschung in das Denken der westlichen Welt einführte und noch heute viele beeinflusst, verbrachte den größten Teil seines Lebens am Arunachala, einem Berg in Tiruvannamalai, von dem gesagt wird, er sei die Verkörperung von Lord Siva selbst.
Ich hatte mein Bestes getan, um meine vier deutschen Gefährten auf Indien vorzubereiten. Wasser ist ein Problem. Die Toilette ist eine Herausforderung. Das Überqueren der Straße kann bedrohlich sein. Bettler können lästig sein und/oder einem das Herz brechen. Affen könnten einem das Essen stehlen. Ich wollte meine Gruppe auf alles vorbereiten, aber ich konnte sie nicht vollständig vorbereiten, und das war gut so.
Die Anpassung an sehr unterschiedliche Verhaltensweisen und eine ständige Reizüberflutung waren natürlich nicht das Hauptziel unserer Reise. Wir Reisenden haben gemeinsam meditiert, gemeinsam Qigong geübt, gemeinsam Heilungserfahrungen gemacht und gemeinsam viel Tee getrunken. Wir wollten einen weiteren Schritt in der Vertiefung und Reifung unseres spirituellen Lebens machen. Wir wollten das stille Mysterium in unseren Herzen spüren, um zu erkennen, wie unser Verstand und unsere Gefühle funktionieren. Wir wollten gute, weise Menschen treffen, die gute Arbeit leisten. Wir wollten Kraft tanken, um Licht und Liebe in der Welt zu verbreiten. Das ist uns gelungen. Wie erfüllend!
Was haben wir genau getan? Wir meditierten im Ramanashram, wir verbrachten viele Stunden am Fuße des Arunachala-Bergs und gingen auch zur Virupaksha-Höhle, in der Ramana Maharshi siebzehn Jahre lang schweigend lebte. Wir verbrachten Zeit mit Werner Meier, einem sehr weisen Schweizer Yogi, der seit 45 Jahren in Indien lebt. Wir meditierten auch in dem herrlichen Matrimandir in Auroville. Wir trafen die engagierten Gründer von Deepam, einem florierenden Zentrum für Kinder mit schweren Behinderungen. Das waren in der Tat besondere energetische Erfahrungen!
Aber wenn ich an die wahre Bedeutung und Tiefe unserer Reise denke, dann war es die Verbindung zu den Menschen vor Ort, die uns begegneten, die unser Herz mit Licht und Liebe erfüllten, welche sich in einen freudigen Enthusiasmus über das gemeinsame Leben mit anderen auf der Erde verwandelte. Die Tamilen schienen zu spüren, wo unsere Herzen sind, und antworteten mit dem Zeigen ihrer eigenen.
Indien ist ein Land im Umbruch, aber für europäische Verhältnisse (und sicher auch für Schweizer Verhältnisse) kann man sagen, dass die Menschen mit sehr kleinen Einkommen leben. Und trotzdem waren die Einheimischen, die wir getroffen haben, erstaunlich großzügig. Das spürten wir bei den Männern, die an den Chai-Ständen Tee zubereiteten, oder bei den Frauen, die täglich ein Rangoli vor ihrer Haustür malten. Ihr Lächeln und ihre Freundlichkeit vermittelten uns das Gefühl, dass auch wir zu ihrer großen Menschheitsfamilie gehören, und durchbrachen alle Vorstellungen von Klasse oder Hautfarbe, die sich aus unserer konditionierten Sichtweise auf andere Menschen ergeben könnten.
Und mehr als das, eine Helligkeit, ein Leuchten, ging von diesen offenen Menschen aus und erfüllte uns, wir erkannten und verbanden uns mit dem, was wir selbst sind: Licht, Liebe und kreative Lebensenergie. Es ist ein erstaunliches Geschenk, dieses natürliche Vertrauen, das entsteht, das den denkenden Verstand zurücktreten und die Qualitäten aus der Tiefe des Herzens hervortreten lässt. Diese Tiefe des Geistes ist unsere gemeinsame menschliche Erfahrung, die uns Freude, Heilung und natürliche menschliche Güte schenkt.
Wenn also Deutsche, Tamilen und ein Amerikaner gemeinsam eine so reiche Lebenserfahrung machen können, frage ich mich erneut, warum die dunklen Schatten über so vielen Gemütern, über unserem kollektiven menschlichen Geist herrschen? Was wissen wir nicht über uns selbst?
Wenn wir lernen, unseren Verstand klar zu sehen, erkennen wir, dass es Gier gibt. Ja, wenn wir ehrlich sind, können wir alle ziemlich egoistisch sein. Denken Sie an unsere Gefühle, wenn wir Steuern zahlen. Steuern sind eine großartige Möglichkeit für diejenigen, die mehr Reichtum haben, mit denen zu teilen, die weniger haben. Aber anstatt uns über das Teilen unseres Reichtums zu freuen, schaudern wir vor dem Druck (oder Zwang), jedes Jahr etwas hergeben zu müssen. Oft zahlen wir jemandem viel Geld, damit wir weniger zahlen müssen und uns hinterher fühlen, als hätten wir ein Spiel gewonnen. Aber wen haben wir geschlagen? Letztlich haben wir uns selbst geschlagen, unseren kollektiven Geist des Teilens. Sicher, wir teilen großzügig mit Familie und Freunden, aber bei Fremden, wenn sie nicht unserer Klasse oder Ethnie angehören, selbst wenn sie Mitglieder unserer Gemeinschaft sind, halten wir uns oft zurück.
Wir konnten in Indien einige Geldspenden geben, aber was wir von den Menschen erhielten, fühlte sich nach viel mehr an. Großzügigkeit in Hülle und Fülle. Gut für uns, gut für andere, so gut, dass es hier in Europa weiter leuchtet. Es wäre schön, wenn sich das auch in den USA fortsetzen würde!
Ich freue mich, dass meine Reisegruppe, eine Sonderschullehrerin, zwei Sozialarbeiter und ein Geschäftsmann, und ich einige leuchtende Momente in Indien hatten. Wir geben sowohl das weiter, was wir sind, als auch das, was wir wissen. Oder: „Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst“, wie Herr Gandhi sagte.
Es ist Zeit, meine Steuererklärung zu überprüfen.
Hier in der Nordostschweiz waren die Novembertage wunderschön. So viel blauen Himmel und saubere, klare Luft habe ich in meiner ganzen Zeit in Deutschland zu dieser Jahreszeit noch nicht erlebt. Der Kalifornier in mir hat die Fülle an Licht und Farben im November sehr genossen.
Was im letzten Monat schwer zu genießen war, das waren die Nachrichten. Die Politik stand bei vielen Menschen, die ich hier und in den Vereinigten Staaten kenne, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wir lesen, wir schauen, aber wir sind nicht überzeugt. Wir haben immer weniger Vertrauen in das, was uns über die Medien mitgeteilt wird. Wir sind es leid, darauf zu hoffen, dass in der Welt etwas Erfreuliches geschieht, und immer wieder enttäuscht zu werden. Dann umgeben wir uns doch lieber mit Sprach- und Videoaufnahmen von denen, die wir noch mögen und in unsere überfütterten Gehirne lassen wollen. Wir wissen, dass es schreckliche Kriege gibt, in denen Waffen eingesetzt werden, die von unseren eigenen Ländern hergestellt wurden. Wir wissen, dass es viele soziale Ungerechtigkeiten gibt und dass sie nicht weniger werden. Wir hören Droh-Parolen von aufsteigenden politischen Parteien, und es mag uns so vorkommen, als sei das alles zu schmerzhaft. Wir haben das Bedürfnis nach Beruhigung.
Aber ich glaube, den meisten von uns ist klar, dass es eine Verbindung zum Leid in fernen Ländern gibt, die wir nicht ignorieren können. Wir können viele Erklärungen für die Probleme in der Welt finden. Aber man kann mit Sicherheit sagen, dass die europäische und euro-amerikanische koloniale Denkweise im Laufe der Jahrhunderte viele schädliche Auswirkungen gehabt hat. Spuren kolonialen Denkens wie Rassismus und Diskriminierung finden sich immer noch in der Sprache und in der Einstellung vieler Menschen, auch wenn wir glauben, es besser zu meinen.
Solch starke Auswirkungen unserer Geschichte sind schwer zu bewältigen und können dazu führen, dass wir uns hilflos fühlen, wenn es darum geht, positive Veränderungen zu bewirken. Wir möchten Hass und Gewalt überwinden und etwas tun, um der Welt zu Frieden und Gelassenheit zu verhelfen. Ich versuche seit langem, meinen Weg im Umgang mit dieser Herausforderung zu finden.
In den letzten zwanzig Jahren habe ich Indien viele Male besucht. Ich habe dort viele interessante Erfahrungen gemacht, aber eine, die ich in Anbetracht dieses Themas auf alle Fälle teilen möchte, ist meine Arbeit mit Mutter Teresas Nonnen, Mönchen und Freiwilligen in Kolkata. Die drei Monate dort sind mir ganz besonders in Erinnerung geblieben, denn hier habe ich eine Arbeit gefunden, die direkt zum Kern des Themas führt.
Ich kam nach Westbengalen mit der Absicht, in Kalighat zu arbeiten, dem ursprünglichen Hospiz, das Mutter Teresa gegründet hatte, nachdem sie ihre bisherige Arbeit direkt in den Slums geleistet hatte. Mutter Teresa war fünf Jahre vor meiner Ankunft in Kolkata gestorben. Aber die Nonnen und Mönche sprachen oft von ihr, und das mit großem Respekt. Sie war nicht perfekt. Sie stritt sich mit ihren Nonnen und hatte viele Meinungsverschiedenheiten. Aber sie konnte sich immer entschuldigen, sagten sie. Und sie konnte immer die Fehler der anderen verzeihen.
Mutter Teresa war auch eine beeindruckende Arbeiterin. Mir wurde gesagt und gezeigt, welche Art von Arbeit sie gemacht hat und wie lange sie diese gemacht hat. Ihre Fähigkeit, die „Drecksarbeit“ zu machen, übertraf alles, wozu ihre späteren Nachfolger fähig waren, so sagte man mir.
Meine ersten Tage in Kalighat verbrachte ich damit, in der Küche zu putzen. Aber schon bald war ich draußen auf dem Boden bei den „Kunden“, die alle sehr dünn, sehr krank und sehr arm waren. Ich verbrachte viele Stunden damit, sie zu füttern, sie zu tragen, zu baden und sogar zu säubern. Wenn sie starben, half ich bei der Reinigung der Leichen und beim Einpacken der zurückgelassenen Körper.
Oft begleitete ich Schwester Delphine, die als einzige Frau auf der Männerstation des Krankenhauses arbeitete. Manchmal musste ich die Männer festhalten, während sie ihre Wunden versorgte. Wunden und Krankheiten, die ich mir nie hätte vorstellen können. Aber, es ging uns gut. Irgendwie machte mir diese grausame Arbeit Spaß und erfüllte mich.
Als ich durch die Straßen von Kalkutta ging, sah ich nie einen blauen Himmel. So viel Armut, so viel Verschmutzung. Aber die Augen der Menschen, die ich traf, waren nicht trübe. Sie leuchteten. Ich spürte ihre Herzen, und ich spürte, dass ein freundlicher Blick auf diese materiell so Benachteiligten ein Angebot war, das selbst Bettler als eine Unterstützung / Bereicherung? empfanden. Ihre Blicke und ihr Lächeln waren auch eine Art energetisches Geschenk, das mich mit Herz-Kraft versorgte.
Ich hatte Glück mit den Missionaries of Charity, einem männlichen Mönchsorden. Ich lebte mit ihnen, betete mit ihnen, arbeitete mit ihnen, aß mit ihnen, spielte Schach mit ihnen und meditierte sogar mit ihnen. Sie behandelten mich mit sehr viel Freundlichkeit. Als wir eines Tages in der Stadt unterwegs waren, sah ein Mönch, dass wir uns einer sehr belebten Straße näherten, und nahm meine Hand. Es fiel mir nicht leicht, diese Geste der Fürsorge über einen ganzen Kilometer hinweg anzunehmen!
Ich empfand es als ein Privileg, in Kalighat zu arbeiten und einige der schwierigsten Aufgaben zu übernehmen, die mir je begegnen sollten. Ich konnte endlich einen angemessenen Ausdruck für jene Praxis erfahren, die ich viele Jahre lang als Zen-Buddhist in Japan gelernt hatte. Und ich habe einige Dinge verstanden, die Mutter Teresa gesagt hat, und die nach meiner Erfahrung dort noch wahrer wurden.
Eine Sache, die sie sehr gut ausgedrückt hat, ist: „Liebe, bis es weh tut.“ Ich bin sicherlich an meine Grenzen gestoßen, wenn es darum ging, mich um die Menschen in Kalighat zu kümmern. Mein Körper und mein Geist brauchten Zeit, um die Menge und Schwere der Krankheiten zu verarbeiten. Aber ich konnte auch andere Mönche, Nonnen und Freiwillige beobachten. Ich gewann an Mut und Ausdauer. Die Arbeit war sehr intim. Mitgefühl konnte nicht nur als Konzept aufgefasst werden. Entweder ich konnte etwas tun oder nicht. Das hat etwas von einer Begegnung mit einem Zen-Meister.
In unserer modernen, stark auf Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft frage ich mich, wo die Kraft der Liebe ihren Platz hat. Langfristige Partnerschaften, Familien- und Arbeitsbeziehungen und Freundschaften erfordern unglaubliche Geduld und Mut, wenn sie wachsen und gedeihen sollen, und solche Tugenden sind umso schwerer erreichbar, wenn ich nur ständig an meine Work-Life-Balance denke.
Eine weitere wichtige Bemerkung machte Mutter Teresa nach ihrer Rückkehr von einem Besuch in Nordamerika: „Die Menschen in Indien sind sehr arm. Aber dort, wo ich war, sind die Menschen noch viel ärmer.“ Intuitiv wusste ich, was sie meinte. Ich bin Euro-Amerikaner, und wenn ich mir das Ausmaß an Hass, Gewalt und Einsamkeit ansehe, das sich dort täglich zeigt, kann ich sagen, dass es dort, wo ich herkomme, eine ernsthafte geistige Armut gibt. Wenn wir wieder verstehen, was es heißt, innerlich reich zu sein, und erfahren, wie das die Welt um uns herum verändert, werden wir zuversichtlicher, dass die komplexen Schwierigkeiten, mit denen wir in der äußeren Welt konfrontiert sind, überwunden werden können, und dass nicht nur wir, sondern auch andere das schaffen können.
Indien hat große Probleme. Es gibt Gewalt, es gibt Umweltverschmutzung, und es gibt auch Hass. Aber ich habe dort Menschen gefunden, die etwas von Liebe vermittelten, das ich zu Hause entweder nicht kannte oder nicht erkannt hatte. In gewisser Weise bereichern diese Erfahrungen mein heutiges Leben in dem Schweizer Dorf Waldstatt.
Jenseits des Wunsches, besser zu sein als andere, jenseits des Wunsches, jemand anderem die Schuld für unsere Probleme zu geben, und jenseits der Work-Life- Balance gibt es einen reinen und starken Drang in uns Menschen, uns um die Erde und die Lebewesen auf ihr zu kümmern. Manchmal müssen wir wirklich durchhalten und lieben, bis es weh tut, egal wo wir sind.
Der Herbst ist in der Nordostschweiz angekommen. Die Farben sind herrlich, die Luft ist klar und frisch, und der Säntis ist wieder mit Schnee bedeckt. Ich genieß meine erste Herbstsaison hier wirklich.
Erst letzte Woche sonnte ich mich an einem viel wärmeren Ort, an der Küste von Portugal. Die Weite des Meeres, der Geruch des Salzwassers und das Gefühl, es auf der Haut zu spüren, die intensive Bewegung von Wind, Wellen und Wolken, die farbenprächtigen Sonnenuntergänge und die Sterne in der Nacht durchdrangen mein Wesen. Ich bewegte mich langsamer und fühlte mich tief mit allen Naturelementen verbunden. Der frühe Oktober war eine starke Zeit der Vitalisierung.
Ich nahm auch meine erste Surfstunde. Meine Frau war viele Jahre lang Surferin und wollte wieder damit anfangen. Ja, ich bin in Südkalifornien in Strandnähe aufgewachsen, also könnte man annehmen, dass Surfen für mich so etwas wie Fußball für die Deutschen ist. Aber ich liebte andere Sportarten und hatte nie versucht, eine Welle mit einem Brett zu reiten. Meine Freunde in der Corona del Mar High School surften vor der Schule und schliefen oft tagsüber während ihrer Kurse. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie vor Erschöpfung den Kopf auf die Schulbank legten und sogar im Unterricht schnarchten. Die Lehrer konnten nicht viel dagegen tun!
Wenn ich morgens früh aufwachte, lernte ich. Ich wollte auf die Universität gehen. Meine Freunde wollten ihr Leben dort, wo sie waren, in vollen Zügen genießen. Ich empfand sie als mutig. Ich beneidete sie, sogar um ihr Schnarchen.
Nach meinen ersten Stunden in den Gewässern vor der Küste des Alentejo war ich sehr müde und hatte Schmerzen. Ein paar Tage später nahm ich eine zweite Unterrichtsstunde und war viel entspannter. Außerdem hatte ich danach weniger Muskelkater. Ich glaube, das lag daran, dass ich ein paar Dinge gelernt habe, und diese Dinge gelten für das Leben im Allgemeinen, also möchte ich darüber schreiben.
In meinem letzten Blog habe ich über das Verweilen im Leerlauf geschrieben. An jenem ersten Tag, als ich versuchte, eine Welle zu erwischen, hatte ich keine Zeit, passiv zu bleiben. Ich habe versucht, alles richtig zu machen.
1. Paddeln
2. Hochdrücken, wenn du die Welle hast
3. Hinteres Bein anheben und stabilisieren
4. Aufstehen, Beine anwinkeln und nicht nach unten schauen!
Nun, ich bin nie aus dem Wildwasser herausgekommen, aber der Atlantik bietet guten Schub im Wildwasser, also habe ich einige Fahrten gemacht. Und was ich lernen musste, was wirklich wichtig und nicht einfach war: beim Paddeln nach oben zu schauen, während des ganzen Prozesses in Richtung Strand zu schauen, in die Richtung, in die ich fuhr. Aber am wichtigsten ist es, zu warten, zu spüren, wie die Welle mich mitnimmt, bevor ich handle. In der Tat war ein Paddeln im Leerlauf erforderlich!
An diesem ersten Tag war es viel zu einfach, sich über meine Technik Gedanken zu machen, über das schwache rechte Knie, über die Platzierung des Fußes, darüber, dass ich in den letzten Monaten nicht genug Liegestütze gemacht hatte, was es mir unmöglich machte, eine anständige Fahrt hinzulegen. Ich orientierte mich immer wieder an meinen Schwächen und schaute nach unten. Und ich fiel, und fiel, und fiel. Das Brett flog, und flog, und flog. Ich hatte zwar Spaß, aber es war sehr anstrengend. Mein braungebrannter, langhaariger Surflehrer Diogo sagte immer nur, „Schauen Sie nicht nach unten. Es wird leichter sein.“
Die zweite Erfahrung zwei Tage später war ganz anders. Ich versuchte, mir nicht so viele Gedanken darüber zu machen, was mein Körper tat, und konzentrierte mich darauf, „nach unten zu fühlen“, zu spüren, wie die Welle mich mitnahm, während ich nach vorne sah. Ich schaute nach vorne und vertraute darauf, dass mein Körper unten folgen würde. Und das Gute geschah ziemlich schnell, ich war oben und konnte ein paar Ritte ans Ufer machen. Es war fast zu einfach. Es war, als ob der Atlantik mich auf eine Reise mitnahm. Er lenkte mich. Er wollte, dass ich etwas Spaß habe. Meine Surfversuche klappten nicht immer wie Poesie in Bewegung, aber die erlebten Momente der Stabilität waren eindeutig.
In dem, was ich in Portugal erlebt habe, liegt etwas Wichtiges. Ich habe zwar vor, regelmäßig Liegestütze zu machen und bald wieder zu surfen. Aber wichtiger ist für mich heute, darüber nachzudenken, wie diese Haltung des Abwartens, der Entspannung und des Vertrauens, des Blicks nach vorne, mit dem Kopf in der Gegenwart und nicht nach unten in Überlegungen über richtig und falsch, stark und schwach, gut und schlecht, Vergangenheit und Zukunft, mich die Unterstützung einer größeren Kraft spüren ließ. Es war eine Kraft vorhanden, die mich mitnehmen konnte und es mir ermöglichte, ganz leicht aufrecht zu werden. Ich konnte gleiten, lächeln und genießen.
In Amerika stehen die Wahlen vor der Tür. Im Nahen Osten findet ein katastrophaler Krieg statt, und weitere Konflikte sind im Anmarsch. Hier in Europa zieht ein langwieriger Kampf Milliarden von Dollar aus den Taschen der Menschen und schadet Millionen von Menschenleben. Als Kollektiv lebt ein Großteil der Menschheit in sehr angespannten Zeiten.
Unser individuelles Leben hat unvermeidliche Herausforderungen. Der Körper altert, wir erleben, dass Freunde und Verwandte krank sind. Menschen, die uns am Herzen liegen, haben schwierige Situationen zu bewältigen und brauchen Unterstützung. Es ist leicht, nach unten zu schauen, anderen die Schuld zu geben oder sich frustriert, überfordert und hilflos zu fühlen.
Aber ja, wir versuchen trotzdem, der Welt zu helfen. Wir tun unser Bestes. Trotz all unserer körperlichen und emotionalen Schwächen, unserer Ablenkungsmanöver und unserer unvollkommenen Persönlichkeiten versuchen wir, den Blick nach vorn zu richten, unsere Aufmerksamkeit nach oben und nach vorn zu richten und zu vertrauen. Wir haben die Fähigkeit, aufzustehen, unseren Fluss zu finden und anderen zu helfen, ebenfalls aufzustehen und ihren Fluss zu finden. Wir möchten, dass die Menschen in dieser Welt dieses belastbare Vertrauen, dieses Gleiten, diese Freude am Leben spüren. Letztendlich wollen wir den Mut haben, wieder aufzustehen und uns mit dieser größeren Kraft zu verbinden, die uns (und andere) in die Richtung tragen kann, für die wir bestimmt sind, egal, wie oft wir abstürzen und uns überschlagen.
Ich glaube, meine High-School-Freunde wären überrascht, wenn sie wüssten, dass ich surfen gehe. Ich bewundere sie immer noch und hoffe, dass sie in der Lage sind, die Herausforderungen des Lebens mit der Zuversicht zu meistern, die sie an jenen frühen Morgen vor vielen Jahren hatten. Ich hoffe, Sie können das auch!
Nach wie vor erfreuen die wunderbaren Landschaften hier in der Schweiz meine Sinne. Berge, Seen, Flüsse, grüne Felder und auch Gärten voller großer, bunter Blumen, ursprüngliche Bauernhäuser und kleine Herden grasender Kühe ziehen die Blicke auf sich und begeistern das Auge.
Wenn ich darüber nachdenke, warum das so ist und was es bedeutet, diese Schönheit und Verbundenheit erkennen und spüren zu können, überlege ich oft, ob vielleicht durch das Fehlen gewaltsamer Konflikte, von denen dieses Land in der Neuzeit verschont blieb, die Resonanz von natürlichem Frieden in mir und in der Natur um mich herum so stark präsent werden kann.
Frieden – wenn wir ihn nicht in uns selbst spüren, woher sollten wir dann wissen, wie er zwischen verfeindeten Gruppen und Ländern auf dieser Welt zustande kommen kann? Wissen wir, wie Frieden innerhalb unserer Familien, im Umgang mit unseren Kollegen oder Nachbarn geht? Wie erfahren wir den Frieden, wie erkennen wir ihn, wie beteiligen wir uns an ihm? Das möchte ich schon seit langem verstehen.
Die Schweiz ist für die neutrale Einstellung ihrer Regierung bekannt. Gemäß ihrer Verfassung wird sie bei einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen zwei anderen Ländern nicht zu den Waffen greifen. Die Schweizer selbst erwähnen dies häufig und nicht selten schicken sie einige Kommentare hinterher, in denen sie klarstellen, dass sie sich der faulen Kompromisse schon bewusst sind, für die ihre Regierungen in der Vergangenheit verantwortlich waren und sich dabei doch weiterhin als ‚neutral‘ bezeichneten. Und doch bemerke ich einen gewissen Stolz auf diese Neutralität, die die Schweizer Mentalität prägt. Viele, vermutlich die Mehrheit der Schweizer würden darin übereinstimmen, dass es nicht besonders klug ist, einzugreifen, wenn zwei andere ein Problem miteinander haben und dass es friedliche Lösungen gibt.
Frieden. Für einen Amerikaner klingt dieses Wort überholt, wie eine Hippie- Wunschvorstellung. Doch nein, ich weiß, dass sich Millionen von Amerikaner dafür einsetzen. Um das zu unterstützen, möchte ich zeigen, dass sich gerade aus einer neutralen Haltung Vorteile ergeben können, wie eben beispielsweise die Fähigkeit, auf diesem Planeten friedlich zusammenzuleben. Das spüre ich hier im Appenzeller Land, in meiner eigenen Lebensqualität und in der der Menschen, denen ich täglich begegne. Was bedeutet es, neutral zu sein?
Neutralität hat für den Einzelnen eine sehr tiefgehende Bedeutung. Sie bedeutet nicht nur, keine Partei zu ergreifen. Sie bedeutet nicht, sich stets mit einem Buddha-gleichen Lächeln auf dem Gesicht ruhig zu verhalten. Es handelt sich bei ihr nicht um einen stoischen Zustand, in dem Gefühle keine Rolle spielen. Neutralität ist vielmehr die klare Bewusstheit darüber, dass es eine Vielzahl von Perspektiven gibt. Wenn wir uns nicht an unsere innere Gedankenwelt voll von Begründungen und Rechtfertigungen, von Vorlieben und Abneigungen, von der Einteilung in Freunde und Feinde klammern und uns wirklich für die anderen Menschen interessieren ohne dass Meinungen unsere intuitive Kraft vernebeln, dann können wir ganz natürlich einen energetischen Zustand der Neutralität erreichen, der weder Stillstand noch bloße Passivität bedeutet. Das verwechseln wir nicht. Neutralität ermöglicht es den Dingen, lebendig zu bleiben, zu wachsen, sich zu beruhigen, zu heilen und machtvoll zu werden.
Im Auto gibt es dieses große ‚N‘. Fast alle Autos, die ich in Japan und in Europa gefahren bin, hatten ein Schaltgetriebe. Hier schaltet man bewusst von einem Gang in den anderen, doch das geht nicht, ohne zumindest für einen kurzen Augenblick in einen Zustand von ‚Neutralität‘ einzutreten. Autos ohne Schaltknüppel scheinen den Leerlauf zu überspringen und fast alle Autos, die ich in den USA gefahren bin, hatten Automatikgetriebe. In einem Artikel über Autos in Google steht sogar, dass ‚Neutral‘ in Automatik-Wägen ein gefährlicher Gang sei. Man verliert die Kontrolle. Aber ich mag es, ein bisschen im Leerlauf zu verweilen, wenn ich hier in Europa ein Auto mit Schaltgetriebe fahre. Es fühlt sich gut an, nicht ununterbrochen einen Gang eingelegt zu haben.
Wäre es nicht an der Zeit, der ‚Neutralität‘ etwas Platz einzuräumen? Nicht in erster Linie in einem politischen Sinne, sondern in einem physischen, psychologischen und energetischen. Ein Baum hat Äste. Wir identifizieren den Baum anhand seiner Blätter und Blüten und anhand der Form seiner Äste. Doch was gibt diesem wunderbaren Baum tatsächlich Lebendigkeit? Wo liegt seine Schönheit begründet? Licht, Wasser und Luft erreichen den Baum durch die Blätter und die Rinde, aber die Bewegung und Umwandlung dieser Elemente in Energie muss durch eine Verbindung zu den Wurzeln geschehen. Dazu geht es durch die Mitte, den Rumpf, den Stamm, die Innereien und das Herz. Das ist ein unsichtbares neutrales Gebiet, in dem nichts durch unsere Sinne so einfach wahrgenommen werden kann, in dem sich jedoch wirklich alles bewegen muss, um wirklich Energie und Kraft zu transformieren. Wir Menschen funktionieren auf diese Weise und die Tiere ebenso.
Wir Menschen können mit diesen inneren Bewegungen in Berührung kommen. Wir können sie beobachten, unterstützen und weiterentwickeln. Im Lauf unserer Geschichte haben wir Euro-Amerikaner uns zwar gerne als Individualisten bezeichnet, uns jedoch oft von überstürzten Aktionen, Erklärungen und dem Rat von Experten leiten lassen. Weil alles so komplex ist, verlieren wir leicht das Vertrauen in unsere Fähigkeit, spüren zu können, was tief in uns drinnen los ist. Entscheidungen fallen uns schwer. Wir sitzen auf einem Ast unseres Baumes und verlieren den Kontakt zu den anderen Ästen unseres einzigartigen Baumes und schließlich auch zu unserem kollektiven Wald.
Die innere Zerrissenheit wird zur äußeren. Das geschieht überall. Viele von uns Amerikanern sehen sich mit einem Dilemma konfrontiert, einem Gefühl des Stillstandes. Wir wollen so gerne etwas wissen, vorankommen, an die Spitze gelangen, irgendwas erreichen, das wirklich perfekt ist. Für viele ist das heutzutage ein sehr frustrierendes Gefühl.
In dem Artikel über Automatikgetriebe, den ich schon erwähnt habe, heißt es: „Benutze Neutral, wenn dein Auto irgendwo feststeckt.“ Ich mag diesen Satz. Wenn die Dinge nicht so geschmeidig laufen, in den Leerlauf zurückkommen, atmen, aufhören, die Dinge in diesen oder jenen Gang zwingen zu wollen, beobachten, loslassen. Wo bewegen sich Dinge von selbst, ohne unser Zutun?
Diese Neutralität bedeutet nicht aufzugeben. Wir lernen zu vertrauen und Vertrauen fühlt sich wunderbar an. Es hebt unsere Lebensfreude. Wir erholen uns und sind bereit, große Schwierigkeiten mit Mut und Kreativität anzugehen. Diese Qualitäten werden nicht durch einen erschöpften oder ‚getriebenen‘ Verstand hervorgebracht. Sie entstehen aus der Verbindung zu unserem gesamten Menschsein, zu unseren Wurzeln als energetische, lebendige Wesen, die wir Teil der Gesamtheit aller anderen Lebewesen sind. Im Zentrum steht die Liebe. Und von hier aus möchte ich, ein Amerikaner, die Welt sehen, von hier aus möchte ich mit und für andere arbeiten, von hier aus möchte ich mein Leben genießen.
Ich hoffe, immer besser darin zu werden, neutral zu sein, nicht zu beurteilen, nichts zu erzwingen, mich nicht einzumischen, wo es nicht nötig ist. Und hoffentlich kann ich die daraus entspringende Lebensfreude und Zuversicht mit meiner Familie, meinen geliebten Amerikanern und mit der ganzen Welt teilen.