Mark Albin

Neulich haben meine Frau und ich eine wunderschöne Wanderung in den Bergen unternommen. Viele kennen dieses Gefühl von Zufriedenheit, wenn sie einen steilen Pfad erklommen haben und an einem klaren Bergsee angekommen sind, und auch ich durfte das an diesem Tag erleben. Die Erhabenheit und die majestätische Ruhe des mächtigen Alpstein-Massivs ließen meinen Geist schweben. Ohne Schwierigkeiten fühlte ich mich mit meinem Atem und mit der Erde verbunden. Gleichzeitig fühlte ich eine Zuneigung zu all den Lebewesen auf dieser Erde, vor allem zu den Bergkröten, die immer wieder ihre Augen über die Wasseroberfläche reckten, gerade so als ob sie sich über eine Plauderei freuen würden.

Mit meiner Frau zusammen trank ich an diesem Tag am Ufer des Fählensees (ein See inmitten der Gipfel des Appenzeller Landes, wo wir wohnen) eine Schale Matcha-Tee, was mein Herz und meine Sinne mit noch mehr frischer Energie erfüllte. Eine Kraft tief in meinem Inneren sank mit dem grünen Tee hinunter ins Wasser des Sees. Meine Augen schienen über die Grenzen meines Körpers hinauszuwachsen und die machtvolle Ausstrahlung der schneebedeckten Gipfeln, gesäumt von federleichten Wölkchen am Aprilhimmel, einzusaugen. Was für ein fantastischer Ort, um dieses wunderbare Dasein einzuatmen und aufzunehmen!

Fählensee

Ich habe in meinem ersten Beitrag zu diesem Blog erwähnt, dass es für mich wichtig ist anderen zu helfen. Ich frage mich aber auch, was hilft wirklich? Wie helfen wir anderen tatsächlich? Ich kann diesen Moment am See sehr genießen. Doch wenn ich dann wieder weggehe, kann ich dann wirklich irgendjemandem in dieser komplexen Welt helfen?

Ich bewährte mich schon in jungen Jahren als ‚Helfer‘, als Pfleger für meinen älteren Bruder Michael, der an Duchenne Muskeldystrophie litt. Seinen Rollstuhl zu schieben, seine Beine zu massieren und seinen geschwächten Körper zur Toilette oder ins Bett zu tragen, waren für mich als Zwölfjährigen ganz selbstverständliche Aufgaben geworden. In dieser vertrauensvollen Atmosphäre von Brüderlichkeit fühlte ich mich sehr nützlich und eng verbunden mit jemandem, den ich liebte.

Michael and Mark

Es hat nicht immer Spaß gemacht, ein Helfer zu sein. Als Kinder und Teenager haben mein Bruder und ich dauernd gestritten. Aber ich wollte niemals, dass er leidet. Wenn ich ihn getragen habe, bin ich sicher manchmal unabsichtlich mit seinem Fuß an einen Türrahmen gestoßen und wenn ich ihm einen Schuh ausziehen wollte, habe ich seinen Knöchel vielleicht manchmal ein bisschen stark verdreht. Doch wir konnten uns beide diese Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens bewahren. Mein Halten war sanft und gleichzeitig sehr fest und Michael beschwerte sich nie über meine Arbeit. Er bedankte sich oft bei mir.

Als ich das erste Mal von Michaels Diagnose erfuhr, wollte ich ihn retten. Seine Krankheit war fatal. Er würde im Alter von 14 bis 20 Jahren sterben. Ich dachte, ich könnte irgendetwas tun, um die Lage zu verändern oder leichter zu machen. Ich denke, hier liegt die Wurzel meiner Suche, meiner Sehnsucht, Menschen zu helfen, die düsteren Vorstellungen von Krankheit und Tod zu überwinden.

Inzwischen kann ich leicht erkennen, wie der Buddhismus in mein Leben trat. Ich sehe auch, welch großartige Unterstützung seine Lehren und Übungen für mich sind und waren. Der Buddha sah den menschlichen Zustand als Leiden an, solange diese Überwindung von Anhaftung an den Körper und sein Vergehen nicht bewusst erfahren wird. Das ist der Weg eines Bodhisattva im Mahayana-Buddhismus. Er möchte das menschliche Leben durch Gewahrsein und Bewusstwerdung verbessern und er möchte dies mit anderen teilen. Es gibt mehr als Leben und Tod, und diese Erkenntnis kann unser Sein transformieren heraus aus völliger Selbstbezogenheit hin zu einem Leben in immer stärkerer Herzverbindung zu allen Lebewesen

Wenn ich über diese Momente von inniger Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung während meiner Kindheit als Michaels Pfleger nachdenke, dann merke ich, dass sie eigentlich kurze, stille Meditationen waren. Es waren konzentrierte rhythmische Tänze, die uns beide mit einem größeren Vertrauen in den Sinn des Lebens bereicherten. Wir liebten und wir vertrauten. Und genauso habe ich mich am See mit meiner Frau und den Fröschen gefühlt.

Nach den Jahren mit meinem Bruder fiel es mir nicht leicht, dieses Gefühl der Verbundenheit mit mir selbst oder einer anderen Person wieder zu verspüren. Und doch hat sich mit der Zeit etwas verändert und es sind gute Dinge geschehen. Ich erwarte nicht mehr, meine Sehnsucht nach Transzendenz zu erfüllen, indem ich ein Buch lese oder einen Workshop besuche, in ein fremdes Land reise oder eine bestimmte Person treffe. Transzendenz entsteht von innen heraus und bringt die Neigung des Verstandes, sich zu sorgen, Probleme zu lösen, etwas in Ordnung zu bringen oder auszugleichen, zur Ruhe. Ich erlebe Wut, Tränen und Leid, aber immer verbindet mich ein Licht mit denen, die ich vermisse, die ich verloren habe.

Michael verließ diese Welt 1985. Er war ein äußerst intelligenter und großherziger Mensch, aber er konnte der Bösartigkeit seiner Krankheit nicht entgehen und starb mit 24 Jahren. Während seines Lebens, denke ich, geschah Heilung. Ich nehme Michaels Präsenz jetzt als Lichtstrahl wahr, der durch meine eigene Person strahlt. Ich möchte bald mehr über Michael schreiben.

Vermutlich habe ich aufgrund meiner Familiengeschichte ein ‚Helfersyndrom‘ entwickelt. Doch mit wirklicher Hilfe von anderen, die das Transzendente sehr tiefgehend kennen, konnte ich den ‚Helfer‘-Weg einschlagen, der mich zu diesem Moment an den See in diesen prachtvollen Bergen mit meiner wunderbaren Frau und den neugierigen Fröschen gebracht hat. Es ist so ein Moment wie jene vertrauensvollen, innigen Momente, die ich aus meiner Kindheit mit meinem Bruder Michael kenne. Solche Momente teilen zu dürfen, ist sehr erfüllend.

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