Mark Albin

baum sonnenuntergang

Hier in der Nordostschweiz waren die Novembertage wunderschön. So viel blauen Himmel und saubere, klare Luft habe ich in meiner ganzen Zeit in Deutschland zu dieser Jahreszeit noch nicht erlebt. Der Kalifornier in mir hat die Fülle an Licht und Farben im November sehr genossen.

Was im letzten Monat schwer zu genießen war, das waren die Nachrichten. Die Politik stand bei vielen Menschen, die ich hier und in den Vereinigten Staaten kenne, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wir lesen, wir schauen, aber wir sind nicht überzeugt. Wir haben immer weniger Vertrauen in das, was uns über die Medien mitgeteilt wird. Wir sind es leid, darauf zu hoffen, dass in der Welt etwas Erfreuliches geschieht, und immer wieder enttäuscht zu werden. Dann umgeben wir uns doch lieber mit Sprach- und Videoaufnahmen von denen, die wir noch mögen und in unsere überfütterten Gehirne lassen wollen. Wir wissen, dass es schreckliche Kriege gibt, in denen Waffen eingesetzt werden, die von unseren eigenen Ländern hergestellt wurden. Wir wissen, dass es viele soziale Ungerechtigkeiten gibt und dass sie nicht weniger werden. Wir hören Droh-Parolen von aufsteigenden politischen Parteien, und es mag uns so vorkommen, als sei das alles zu schmerzhaft. Wir haben das Bedürfnis nach Beruhigung.

Aber ich glaube, den meisten von uns ist klar, dass es eine Verbindung zum Leid in fernen Ländern gibt, die wir nicht ignorieren können. Wir können viele Erklärungen für die Probleme in der Welt finden. Aber man kann mit Sicherheit sagen, dass die europäische und euro-amerikanische koloniale Denkweise im Laufe der Jahrhunderte viele schädliche Auswirkungen gehabt hat. Spuren kolonialen Denkens wie Rassismus und Diskriminierung finden sich immer noch in der Sprache und in der Einstellung vieler Menschen, auch wenn wir glauben, es besser zu meinen.

Solch starke Auswirkungen unserer Geschichte sind schwer zu bewältigen und können dazu führen, dass wir uns hilflos fühlen, wenn es darum geht, positive Veränderungen zu bewirken. Wir möchten Hass und Gewalt überwinden und etwas tun, um der Welt zu Frieden und Gelassenheit zu verhelfen. Ich versuche seit langem, meinen Weg im Umgang mit dieser Herausforderung zu finden.

mutter teresaIn den letzten zwanzig Jahren habe ich Indien viele Male besucht. Ich habe dort viele interessante Erfahrungen gemacht, aber eine, die ich in Anbetracht dieses Themas auf alle Fälle teilen möchte, ist meine Arbeit mit Mutter Teresas Nonnen, Mönchen und Freiwilligen in Kolkata. Die drei Monate dort sind mir ganz besonders in Erinnerung geblieben, denn hier habe ich eine Arbeit gefunden, die direkt zum Kern des Themas führt.

Ich kam nach Westbengalen mit der Absicht, in Kalighat zu arbeiten, dem ursprünglichen Hospiz, das Mutter Teresa gegründet hatte, nachdem sie ihre bisherige Arbeit direkt in den Slums geleistet hatte. Mutter Teresa war fünf Jahre vor meiner Ankunft in Kolkata gestorben. Aber die Nonnen und Mönche sprachen oft von ihr, und das mit großem Respekt. Sie war nicht perfekt. Sie stritt sich mit ihren Nonnen und hatte viele Meinungsverschiedenheiten. Aber sie konnte sich immer entschuldigen, sagten sie. Und sie konnte immer die Fehler der anderen verzeihen.

Mutter Teresa war auch eine beeindruckende Arbeiterin. Mir wurde gesagt und gezeigt, welche Art von Arbeit sie gemacht hat und wie lange sie diese gemacht hat. Ihre Fähigkeit, die „Drecksarbeit“ zu machen, übertraf alles, wozu ihre späteren Nachfolger fähig waren, so sagte man mir.

Meine ersten Tage in Kalighat verbrachte ich damit, in der Küche zu putzen. Aber schon bald war ich draußen auf dem Boden bei den „Kunden“, die alle sehr dünn, sehr krank und sehr arm waren. Ich verbrachte viele Stunden damit, sie zu füttern, sie zu tragen, zu baden und sogar zu säubern. Wenn sie starben, half ich bei der Reinigung der Leichen und beim Einpacken der zurückgelassenen Körper.

Oft begleitete ich Schwester Delphine, die als einzige Frau auf der Männerstation des Krankenhauses arbeitete. Manchmal musste ich die Männer festhalten, während sie ihre Wunden versorgte. Wunden und Krankheiten, die ich mir nie hätte vorstellen können. Aber, es ging uns gut. Irgendwie machte mir diese grausame Arbeit Spaß und erfüllte mich.

Als ich durch die Straßen von Kalkutta ging, sah ich nie einen blauen Himmel. So viel Armut, so viel Verschmutzung. Aber die Augen der Menschen, die ich traf, waren nicht trübe. Sie leuchteten. Ich spürte ihre Herzen, und ich spürte, dass ein freundlicher Blick auf diese materiell so Benachteiligten ein Angebot war, das selbst Bettler als eine Unterstützung / Bereicherung? empfanden. Ihre Blicke und ihr Lächeln waren auch eine Art energetisches Geschenk, das mich mit Herz-Kraft versorgte.

Ich hatte Glück mit den Missionaries of Charity, einem männlichen Mönchsorden. Ich lebte mit ihnen, betete mit ihnen, arbeitete mit ihnen, aß mit ihnen, spielte Schach mit ihnen und meditierte sogar mit ihnen. Sie behandelten mich mit sehr viel Freundlichkeit. Als wir eines Tages in der Stadt unterwegs waren, sah ein Mönch, dass wir uns einer sehr belebten Straße näherten, und nahm meine Hand. Es fiel mir nicht leicht, diese Geste der Fürsorge über einen ganzen Kilometer hinweg anzunehmen!

Ich empfand es als ein Privileg, in Kalighat zu arbeiten und einige der schwierigsten Aufgaben zu übernehmen, die mir je begegnen sollten. Ich konnte endlich einen angemessenen Ausdruck für jene Praxis erfahren, die ich viele Jahre lang als Zen-Buddhist in Japan gelernt hatte. Und ich habe einige Dinge verstanden, die Mutter Teresa gesagt hat, und die nach meiner Erfahrung dort noch wahrer wurden.

Eine Sache, die sie sehr gut ausgedrückt hat, ist: „Liebe, bis es weh tut.“  Ich bin sicherlich an meine Grenzen gestoßen, wenn es darum ging, mich um die Menschen in Kalighat zu kümmern. Mein Körper und mein Geist brauchten Zeit, um die Menge und Schwere der Krankheiten zu verarbeiten. Aber ich konnte auch andere Mönche, Nonnen und Freiwillige beobachten. Ich gewann an Mut und Ausdauer. Die Arbeit war sehr intim. Mitgefühl konnte nicht nur als Konzept aufgefasst werden. Entweder ich konnte etwas tun oder nicht. Das hat etwas von einer Begegnung mit einem Zen-Meister.

In unserer modernen, stark auf Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft frage ich mich, wo die Kraft der Liebe ihren Platz hat. Langfristige Partnerschaften, Familien- und Arbeitsbeziehungen und Freundschaften erfordern unglaubliche Geduld und Mut, wenn sie wachsen und gedeihen sollen, und solche Tugenden sind umso schwerer erreichbar, wenn ich nur ständig an meine Work-Life-Balance denke.

schnee landschaftEine weitere wichtige Bemerkung machte Mutter Teresa nach ihrer Rückkehr von einem Besuch in Nordamerika: „Die Menschen in Indien sind sehr arm. Aber dort, wo ich war, sind die Menschen noch viel ärmer.“ Intuitiv wusste ich, was sie meinte. Ich bin Euro-Amerikaner, und wenn ich mir das Ausmaß an Hass, Gewalt und Einsamkeit ansehe, das sich dort täglich zeigt, kann ich sagen, dass es dort, wo ich herkomme, eine ernsthafte geistige Armut gibt. Wenn wir wieder verstehen, was es heißt, innerlich reich zu sein, und erfahren, wie das die Welt um uns herum verändert, werden wir zuversichtlicher, dass die komplexen Schwierigkeiten, mit denen wir in der äußeren Welt konfrontiert sind, überwunden werden können, und dass nicht nur wir, sondern auch andere das schaffen können.

Indien hat große Probleme. Es gibt Gewalt, es gibt Umweltverschmutzung, und es gibt auch Hass. Aber ich habe dort Menschen gefunden, die etwas von Liebe vermittelten, das ich zu Hause entweder nicht kannte oder nicht erkannt hatte. In gewisser Weise bereichern diese Erfahrungen mein heutiges Leben in dem Schweizer Dorf Waldstatt.

Jenseits des Wunsches, besser zu sein als andere, jenseits des Wunsches, jemand anderem die Schuld für unsere Probleme zu geben, und jenseits der Work-Life- Balance gibt es einen reinen und starken Drang in uns Menschen, uns um die Erde und die Lebewesen auf ihr zu kümmern. Manchmal müssen wir wirklich durchhalten und lieben, bis es weh tut, egal wo wir sind.

 

 

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